Das einst von der Jugend vernachlässigte Handwerk in Frankreich hat in den letzten Jahren wieder an Ansehen gewonnen und zieht immer wieder neue Auszubildende an. In den letzten zehn Jahren haben viele Absolventen der französischen Spitzenunis einige Jahre nach dem Beginn einer traditionellen Karriere ihre gut bezahlten Arbeitsplätze verlassen, um zu lernen, etwas mit den Händen zu machen. Haute Cuisine, Sommellerie, Friseurhandwerk, Metzger oder Klempner: Diese Berufe ziehen an. Wer sind sie und warum treffen sie diese Entscheidung? Genau das wollte Audette herausfinden.
Berufliche Veränderung: ja, aber mit Sinn bitte!
Der Wunsch, sich beruflich zu verändern, reift oft über Jahre in den Köpfen der Arbeitnehmer, bevor sie den Schritt wagen. Dies ist häufig auf die Angst zurückzuführen, von denen missverstanden zu werden, die das Handwerk abschätzig beurteilen – gerade im elitären Bildungssystem Frankreich gilt die Hochschulausbildung vielen als der einzige Weg zu beruflicher Selbstverwirklichung.
Aber: Nach ein paar Jahren im „Corporate“-Umfeld verspüren viele junge Angestellte dann jedoch das Bedürfnis, ihre zehn Finger zu benutzen und ihre Nase vom Bildschirm zu lösen. Sie beneiden die Unternehmer um ihre Freiheit, etwas zu erschaffen, das ihrem Berufsleben Sinn verleiht. Wie in den Vereinigten Staaten ist auch in Frankreich das Konzept des "Bullshit-Jobs" allmählich zu einem wichtigen Thema für die Menschen geworden, wenn es um ihren Nutzen für ihr Unternehmen, vor allem in der Gesellschaft geht.
Ein Finanzanalyst bleibt jede Nacht lange auf, um Dutzende von Powerpoint-Folien zu produzieren, die nie verwendet werden. Ein Marketingleiter organisiert unzählige Messen mit Ständen, die Hunderttausende von Euro kosten, um ein paar unsichere Leads zu sammeln. Diese Stände landen am Ende der Veranstaltung in der Mülltonne und lassen den Mitarbeiter die Frage nach der Nachhaltigkeit eines solchen Prozesses stellen. Ein Rechnungsprüfer prüft Tag für Tag Zeilen und Zeilen von Rechnungen für einen Kunden, den er nie persönlich trifft. Diese Beispiele stehen beispielhaft für das Unbehagen, das einige junge Arbeitnehmer plagt: ein sicherer, gut bezahlter Job, der Mama und Papa stolz macht, aber ihrem Leben wenig Sinn gibt. Der Gedanke, die eigenen Kochkünste mit anderen zu teilen oder etwas Einzigartiges zu erschaffen, ist daher für junge Arbeitnehmer auf Sinnsuche zunehmend attraktiv.
Dennoch die Frage der Vergütung ist für sie nicht unbedeutend. Sie haben einen gewissen Lebensstandard, eine Familie und einen Kredit, den sie zurückzahlen müssen. Sie lassen sich daher nicht auf das Abenteuer Handwerk ein, ohne ein gutes Projekt zu haben.
Interview mit Nicolas Bergerault
Wir hatten die Chance, mit Nicolas Bergerault, dem Gründer und CEO des Unternehmens L'atelier des Chefs, darüber zu sprechen. Seine Mission: "Die Franzosen in die Küche zurückbringen". Sein Unternehmen betreibt inzwischen 9 Kochschulen in ganz Frankreich, beschäftigt 100 Mitarbeiter und bietet 7 verschiedene Berufsausbildungsgänge an.
Nicolas erzählt uns mehr über diese Franzosen, die davon träumen, Konditor oder Klempner zu werden. Er selbst hat an der renommierten französischen Wirtschaftshochschule HEC studiert, ist 53 Jahre alt, verheiratet und hat vier Kinder. Nachdem er in großen französischen Konzernen gearbeitet hatte, wagte er 2004 den Schritt in die Selbstständigkeit und gründete L'atelier des Chefs.
Audette: "Ihr Unternehmen ist dafür bekannt, dass es in ganz Frankreich Kochkurse in Workshops und online anbietet. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, neben klassischen Hobby-Kochkursen eine echte Berufsausbildung anzubieten?“
Nicolas: "Unsere digitalen Kochkurse waren sehr erfolgreich. Wir verfügten also über Fachwissen und einen Vorsprung bei Onlineangeboten für Hobbyköche. Das Angebot einer Berufsausbildung war ein logischer nächster Schritt. Gestartet sind wir mit der Berufsausbildung für Köche, dann kam die Ausbildung für Konditoren und Bäcker hinzu. Unsere Aufgabe ist es, die mangelnde Attraktivität dieser Handwerksberufe auszugleichen. Inzwischen haben wir bereits 1000 Kandidaten ausgebildet und werden in den kommenden Jahren etwa 20 weitere neue Angebote einrichten."
Audette: "Wann hat Ihrer Meinung nach dieser Trend zur Umschulung auf handwerkliche Berufe wirklich begonnen?"
Nicolas: "In 2018 ist in Frankreich die Loi Penicaud, ein Gesetz zur Stärkung der Ausbildungsberufe und des lebenslangen Lernens, in Kraft getreten. Jeder Mitarbeiter verfügt nun über ein Weiterbildungskonto, d. h. über ein Budget, das er nach eigenem Ermessen für seine Weiterbildung ausgeben kann. Dies ist ein starker Anreiz, einen neuen Beruf zu erlernen, der dem eigenen Leben einen Sinn gibt. Dieses Gesetz hat wirklich dazu beigetragen, das theoretische und praktische Lernen innerhalb der Unternehmen zu stärken. Anders als in Deutschland war diese Form der Ausbildung in Frankreich bisher nicht sehr verbreitet und nicht sehr geschätzt – das ändert sich nun aber stark.
Und der Trend wurde durch Covid noch verstärkt: Die Menschen wollen mehr Sinn in ihrer Arbeit finden. Sie wollen eine Arbeit, bei der sie etwas schaffen, das andere brauchen, anstatt eine Arbeit zu verrichten, die keinen Wert schafft und in manchen Fällen sogar der Umwelt schadet.
Darüber hinaus sind sich alle über hervorragenden Aussichten im Klaren: Der Mangel an Handwerkern ist sehr real. In Frankreich gibt es also viele Beschäftigungsmöglichkeiten für diese Berufe – es ist ein sehr großer Markt!"
Audette: "Was ist das berufliche Projekt dieser Menschen, die sich neu orientieren?"
Nicolas: "Die Kandidaten für die Ausbildung im L'atelier des Chefs haben 3 verschiedene Ansätze.
Es gibt diejenigen, die die Handwerksprüfung ablegen wollen, um eine Karriere in diesen Berufen zu beginnen. Mit Kochausbildung können Sie sich zum Beispiel als Commis in einem Restaurant bewerben. Für sie ist dies einfach der erste wichtige Schritt in ihrer neuen Karriere.
Andere Ausbildungskandidaten haben ein klassisches unternehmerisches Projekt wie z.B. die Gründung eines Restaurants oder eines Friseursalons.
Und drittens gibt es Unternehmensgründer, die das Geschäft „von der Pike auf“ lernen wollen, um mehr Legitimität innerhalb des Ökosystems zu haben, in dem sie sich bewegen. Sie wollen zum Beispiel eine Plattform für die Vereinbarung von Friseurterminen oder eine App für die Lieferung von Mahlzeiten gründen. Die Berufsausbildung ermöglicht es ihnen, das Kerngeschäft besser zu verstehen und verleiht ihnen Glaubwürdigkeit bei ihrer Unternehmensgründung."
Audette: "Wenn die Handwerksausbildung an Bedeutung gewinnt, glauben Sie dann, dass sich das traditionelle Studium weiterentwickeln wird, um mehr dieser Elemente zu integrieren?"
Nicolas: "Ja, die Hochschulausbildung wird sich weiterentwickeln, und der Wandel ist bereits im Gange. Es entstehen mehr und mehr duale Studiengänge an Business Schools, technischen Hochschulen und in Universitäten, die den Studierenden die Möglichkeit bieten, parallel zum Studium eine Hauswerksausbildung zu absolvieren. L'atelier des Chefs hat zum Beispiel sein Handwerksdiplom im letzten Jahr an eine Klasse von 57 Studenten der Business School HEC verliehen! Und der Kreis unserer Alumni wächst ständig: 500 - 600 Absolventen verschiedener Hochschulen werden im nächsten Jahr hinzukommen.
Bei alldem geht es natürlich letztlich darum, die Menschen für die Arbeitsplätze der Zukunft auszubilden. Der Arbeitsmarkt ist im Wandel, z.B. durch die stärkere Bedeutung von Nachhaltigkeit. So müssen beispielsweise die Hersteller von Haushaltsgeräten jetzt sicherstellen, dass ihre Produkte reparierbar sind. Es werden daher neue Unternehmen entstehen: Reparaturunternehmen für Haushaltsgeräte. Viele Menschen werden in diesen neuen Berufen ausgebildet werden müssen. Daher bin ich fest überzeugt: Handwerk wird auch zukünftig „goldenen Boden“ haben!“
Danke für Ihre Zeit Nicolas und à bientôt!
Mit unserer Auswahl an Produkten und Lieferanten bringt Audette.de Euch jeden Tag französische Handwerkskunst näher. Unsere Produzenten sind Botschafter des französischen Savoir Faire!
(Foto: Herstellung von handgefertigten Kerzen von Maison Tchin Tchin)